Ist man den Nove Colli (neun Hügel) auch dann gefahren, wenn man nur vier Berge bezwungen hat? Warum tut man sich Gran Fondos überhaupt an? Und wo trifft man Eddy Merckx bei einer solchen Gelegenheit?

Sonntag, 4.30 Uhr nachts. Seit einer halben Stunde knallen die Türen im Hotel. Klack, klack, klack … Ich drehe mich noch mal im Bett um. In fünf Minuten würde mein Wecker klingeln. Warum tue ich mir das an? Es ist Sonntag, verdammt!

Ich schaue aus dem Hotelfenster. Im Morgengrauen haben sich einige Rennradfahrer versammelt. Sie fahren in Richtung Strandpromenade, zum Start des Gran Fondo Nove Colli. Mit 12.000 Teilnehmern ist er nicht nur eines der größten Amateurrennen der Welt, sondern gilt auch als Vater aller Gran Fondos – 1970 wurde das Event zum ersten Mal vom lokalen Radsportverein ASD Fausto Coppi veranstaltet.

Auf den neun Hügeln und in besagtem Radclub hat übrigens kein Geringerer als Marco Pantani trainiert. Mit Fahrern aus knapp 50 Ländern (wobei der Großteil aus Italien stammt), Special-Gästen wie Purito (der übrigens auch nur vier Hügel fuhr!), Live-TV-Coverage, mit gesperrten Straßen und einer sehr großen Expo ist der Gran Fondo Nove Colli ein Saisonhighlight für viele Radsportler.

Sind wir hier bei der Tour de France?

Links, rechts, Mitte – bei keinem Gran Fondo habe ich bislang so viele überambitionierte Heißies gesehen, die rücksichtslos am Überholen sind. „They think they’ll win the Tour de France“, sagt ein sichtlich genervt wirkender Italiener zu mir, kurz nachdem er einem Rennrad-Rüpel ein gepflegtes „Cazzo“ hinterhergerufen hat, weil der fast einen Crash verursacht hätte. Auf keinem Rennen habe ich den ersten 30 Kilometern so viele Stürze gesehen. Ein sich überschlagender Peloton, ein richtig fieser Faceplant und vereinzelt Stürze, bei denen nur ein Fahrer zu Boden geht – Sonntagmorgen, 6.30 Uhr: Die Ambulanz ist gefühlt im Dauereinsatz.

Piano: neue Freunde und Dolce Vita

Wer es einen Gang entspannter angehen lässt, muss seiner Familie später nicht nur nicht beichten, dass man eine Teerprobe nehmen wollte. Er nimmt auch deutlich mehr vom Nove Colli mit. Denn was bringt schon die schnellste Zeit, wenn man keine gute Zeit hatte?

Da ich am Nachmittag zu einer (noch) geheimen Präsentation von Cervélo nach Bergamo weiterreisen muss, nehme ich mir vor, „nur“ 130 km und dadurch eben nur vier der neun Hügel des Gran Fondo Nove Colli zu fahren. Bis zur Abzweigung hadere ich noch mit mir: Kann ich das bringen? Ist die kürzere Strecke nicht etwas für Weicheier? Darf ich daheim dann überhaupt sagen, dass ich den Nove Colli geschafft habe? Es klingt banal, aber wer macht sich keine Sorgen um seinen Ruf und seine Rennrad-Ehre?

Die Tatsache, dass ich auf der kürzeren Runde nicht nur mehrere Freundschaften schließe, sondern auch die Landschaft richtig genießen kann, zeigt mir allerdings ziemlich schnell, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe. Denn das Laktat kommt bei den Hügelchen mit ihren zweistelligen Prozent-Anstiegen von selbst.

Als ich dann auch noch für einen Espresso anhalte, kann das kaum einer verstehen: „Das ist ein Rennen – hallo?!“ „Das ist mein verdammter Sonntag – hallo?!“ Warum soll ich mich wegen eines Blumentopfs, den ich eh nicht gewinnen kann, so abhetzen? Der einzige, der es versteht, ist Purito. Der spanische Profi fährt ebenfalls die Vier-Hügel-Tour und genießt die Verpflegungsstationen. Frische Salsiccia, warme Panini und Kaltgetränke – was kann man sich schon mehr wünschen? Kanister-Kaffee ist jedoch nicht so nach unserem Geschmack und alles andere als typisch italienisch.

130 km und vier Hügel. Es kommt nicht darauf an, wie lange man fährt, sondern wie. Wer nur auf die Zeit schaut, vergisst die gute Zeit. Und dazu gehören: Landschaft genießen, neue Freundschaften schließen, lokale Spezialitäten probieren, safe fahren; wo es geht, Gas geben, und Spaß haben!

„Jetzt Bockwurst und Ziggi!“ Lude wollte eigentlich um den Sieg fahren, braucht im Ziel aber auch erst mal ein Bier, um auf die Super-Heißis klarzukommen. Wenn du denkst, dass du auf diesem Rennen knapp eine Stunde vor Start (Sonntag, 5.07 Uhr) Aussichten auf eine gute Ausgangsposition im ersten Startblock hast, dann irrst du dich. Zumindest in Italien – laut Lude hatten mehr als 400 Starter dieselbe Idee. Bleibt nur eine Frage: Warum tut man sich das am Sonntagmorgen an?

Bitte nicht falsch verstehen: Der Nove Colli ist und bleibt eine super organisierte Veranstaltung durch spektakuläres italienisches Hinterland. Aber den etwas in die Tage gekommenen Charme von Cesenatico – mit Hotels, die mit Namen wie Caesars Palace oder Flamingo eher an Las Vegas als an anspruchsvollen Individualurlaub erinnern – muss man mögen.

Und was ist nun mit Eddy Merckx?

Selle Italia sponsert nicht nur den Gran Fondo Nove Colli, sondern hatte uns davor auch zum 120-jährigen Firmenjubiläum nach Bassano del Grappa in seinen Hauptsitz eingeladen.

Dort bekamen wir nach der Präsentation des neuen idMatch-Bikelabs eine persönliche Führung durch die Firmengeschichte, kombiniert mit einem exklusiven Einblick in die Zukunft des Unternehmens – und das von keinem Geringeren als Giuseppe Bigolin, der 50 Jahre Präsident von Selle Italia war, und seinem Nachfolger Riccardo Bigolin.

Am Abend stand dann die Jubiläumsgala mit geladenen Gästen an. Überraschungsgast war kein Geringerer als der größte Rennradfahrer aller Zeiten, Eddy Merckx. 1 Meter und 85 Zentimeter groß, kam er in den Saal und nahm ihn sofort für sich ein.

Giuseppe Bigolin, Eddy Merckx, Riccardo Bigolin (v.l.n.r.)

Erhaben, ruhig und seiner selbst sicher. Dieser Mann muss es anderen nicht mehr beweisen. Jeder erreicht ein Reife-Alter, in dem eine gute Zeit wichtiger ist als eine schnelle. Eine Haltung, die einigen Nove-Colli-Teilnehmern auch gut stehen würde. Chapeau, Eddy!

Eddy Merckx und Robin Schmitt von GRAN FONDO

Vielen Dank an Massimo Perozzo, Nazareno Ferraro, Nelly Marsura und das gesamte Selle Italia Team für diesen Trip!


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Text & Fotos: Robin Schmitt