Alle Ausdauersportarten eint eine Volksweisheit: Nicht die Beine, sondern der Kopf sind der Motor für Leistung auf Höchstniveau. Aber wie zapft man diese Ressource an, wie motiviert man Fahrer, sich selbst weiter zu treiben und ihr Potenzial voll auszuschöpfen? Am zweifellos härtesten Tag des Giro Rosa 2016 haben wir es uns aus nächster Nähe angeschaut – nämlich vom Beifahrersitz des CANYON//SRAM-Teamwagens.

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Von dieser exklusiven Position aus sind wir Zeugen des rollende Schachspiels, das der Zirkus des professionellen Radrennsports ist, und beobachten, wie sich dessen alltäglichen Dramen auf den Straßen Norditaliens entfalten. „Yeah, Alena, sehr gut, sehr gut, mach so weiter! Halte deinen eigenen Rhythmus, deinen eigenen Rhythmus“, Ronny Lauke, der Directeur Sportif (DS), spricht ruhig ins Funkgerät, die Hand über das Mikro gewölbt. Alena Amialiusik fährt auf einer starken Position nahe der Spitze des nun sehr mitgenommenen Feldes, das sich gerade über einen Gebirgspass kämpft. Die Sonne brennt und das sich verändernde Licht macht die enge und kurvenreiche Strecke noch schwieriger. „Manchmal muss man super positiv zu den Fahrerinnen sein. Ich habe noch nie verstanden, was es für einen Nutzen haben soll, wenn der DS die Leute anschreit“, erklärt er. „Auf der anderen Seite ist das hier ein großes Team und unsere Fahrerinnen haben alles was sie brauchen, daher muss ich manchmal auch streng sein, um sie daran zu erinnern, dass sie ihre Performance bringen müssen. Das Ziel ist, dass die Fahrerinnen selbst wissen, was sie in bestimmten Situationen zu tun haben, anstatt auf Anweisungen zu warten.“

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Schauen wir uns zum Beispiel den Tag zuvor an: eine Flachetappe, auf der die Teamfahrerin Tiff Cromwell die Sprintankunft in Lovere für sich entschied, ein längst überfälliger Sieg. Es war offensichtlich, dass ihr Erfolg die Moral des Teams gestärkt hatte, als es sich zur heutigen Bergetappe aufmachte. Die Atmosphäre, die vor dem Rennen geherrscht hatte, lässt sich eher als entspannt bezeichnen. Als die Uhr die Sekunden bis zum Start hinunterzählte, waren bei den Fahrerinnen kaum Anzeichen von Nervosität zu entdecken, obwohl man keine als Kletterin oder gar als Anwärterin aufs Gesamtklassement bezeichnen würde. Der Giro Rosa ist noch kein Rennen für dieses Team, erklärt uns Ronny, die Stärken der Fahrerinnen liegen noch bei anderen Events. Doch dieses Rennen ist etwas, das sie sich für die Zukunft vorgenommen haben.

„Die Berge hier sind nicht oft Teil anderer Rennen, und man findet sowas wie das hier nirgendwo anders.“

Auf dieser Etappe erwartet sie der gewaltige Mortirolo, von vielen als der härteste Anstieg im Radsport betrachtet. Dieser Tag ist entscheidend für das Gesamtklassement beim Giro Rosa. Doch vielleicht aus dem Bewusstsein heraus, dass der Druck abgefallen war, zuckten die CANYON//SRAM-Fahrerinnen heute Morgen nicht mal mit der Wimper angesichts des berüchtigten Bergs – für sie ging es bei Ronnies Briefing vor allem ums Durchhalten und um Zeitersparnis. „Das hier ist das längste Etappenrennen im Frauenradsport. Man muss mit der Energie haushalten, denn was man heute verschwendet, fehlt einem in vier Tagen“, so argumentieren sie.

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Der Giro Rosa ist das Damen-Äquivalent zum Giro d’Italia und hat dieselben Markenzeichen: Er ist gebirgig, hart und wird von wechselhaftem Wetter heimgesucht. Zweifelsohne stellt er das härteste Etappenrennen im Rennkalender der Frauen dar und ist mit zehn Tagen bedeutend kürzer als die Variante für die Männer, wodurch die Transfers jedoch auch unangenehmer sind und das lange Rumsitzen im Auto in die Beine geht. „Beim Giro ist die Zusammensetzung des Teams besonders entscheidend“, räsoniert Ronny in seiner gelassenen Art, mit der er längst dafür gesorgt hat, dass wir uns dabei wohlfühlen, ins innerste Heiligtum des Teams eingeweiht zu werden. „Es ist ein so spezielles Rennen, dass man eigentlich Fahrerinnen bräuchte, die nur für dieses Rennen da sind. Die Berge hier sind nicht oft Teil anderer Rennen, und man findet sowas wie das hier nirgendwo anders.“

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„152 is losing contact. Centocinquantadue ha perso contatto con il gruppo maglia rosa.“

Der Rennkommentar knattert in einer wilden Mischung aus Italienisch und Englisch in den Teamwagen und unterbricht unsere Gespräche. Der Gegensatz zwischen gelassenem alltäglichen Geplauder und dem Geschäftlichen ist offensichtlich; entspannte Unterhaltung steht im Kontrast zu direkten Kommentaren und noch direkteren Anweisungen zwischen den Team-Mitarbeitern – schließlich ist es halt doch ein Rennen. Als der Wagen unelegant über mehrere Bodenwellen auf einem autofreien Radweg rollt, schimpft Ronny: „Zur Hölle, wenn ich eine Fahrerin mit Chancen aufs Gesamtklassement hätte, hätte ich diese Straße vorher abgecheckt. Und außerdem schlampen die da schon wieder mit der Streckendistanz, was stand auf diesem Schild, 32 km?“ Und er schüttelt den Kopf in der Art, wie es jemand tut, der gewisse Standards wirklich erwartet.

Die ersten Fahrerinnen haben nun den Anstieg erreicht, während der Auto-Konvoi sich noch durch das Dorf Mazzo di Valtellina schlängelt, an einer kleinen Zahl von am Straßenrand stehenden Zuschauern vorbei. Das Rennen findet zur selben Zeit statt wie die Tour de France, die Zuschauerzahlen beim Frauenradsport sind ohnehin gering und ein Blick auf die Preisgelder reicht aus, um den traurigen, allgegenwärtigen Verdacht zu bestätigen: Es ist nicht leicht, sich als Frau mit professionellem Radsport den Lebensunterhalt zu verdienen. Für die CANYON//SRAM-Fahrerinnen sieht die Realität zum Glück etwas freundlicher aus und Ronny wirkt stolz darauf, dass er zu diesem verbesserten Status quo beigetragen hat: „Zu wenige Teams haben die Ressourcen, um das möglich zu machen. Doch die Erfahrungen, die die Fahrerinnen in den ersten paar Jahren nach dem Verlassen der Junior-Kategorie sammeln, sind entscheidend. Dann sind sie bereit, aufzusteigen.“ Er war früher selbst Profi, er kennt sich aus mit Fähigkeiten, die man nur bei Rennen erwerben kann. Als das Gespräch auf die öffentlichkeitswirksame Suche nach einem neuen Teammitglied über die Online-Plattform Zwift kommt, zeigt sich Ronny optimistisch, aber pragmatisch. Zwift ist eine Plattform für Indoor-Cycling und Ronny ist gespannt, wie sich die körperliche Fitness des neuen Teammitglieds entfalten wird ohne die Rennerfahrung in der realen Welt, die er von seinen Fahrerinnen gewöhnt ist. Sein Interesse wirkt eher zögerlich; im Moment konzentriert er sich einfach nur darauf, seine aktuelle Aufstellung zu unterstützen.

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„Unser Ansatz ist es, unsere Fahrerinnen immer bei ihrer Entwicklung zu unterstützen“, so Ronny weiter.

Etwas, das ganz deutlich wird, als wir der Führungsfahrerin des Teams folgen, die sich den Anstieg hinauf quält und den beißenden Geruch von überhitzten Kupplungen einatmet, weil sie zwischen ein paar Teamwagen eingekesselt wurde. Das ist sicherlich eine einzigartige und wenig glamouröse Sicht auf die Welt des professionellen Radsports. Hier sind wir weit weg vom Kampf ums Gesamtklassement, doch Ronnys Unterstützung zeigt, wie er seine Fahrerinnen für einen Kampf motiviert, der nicht weniger hart ist.

Es ist der fünfte Tag des Rennens und die Race Bible diktiert, dass dieser Tag Emma Pooley und Mara Abbott gehören wird, zwei veritablen Kletterinnen, die in die Schlacht ziehen und das Peloton in Stücke reißen sollen. Wir fahren weiter und sehen die Widerstandskraft in den Gesichtern derer, die am Ende des Felds fahren, die sehnsüchtigen Blicke, die sie in den Wagen werfen, während am Mortirolo das Peloton explodiert. Manche meinen, es liege wenig Schönes darin, einige der weltbesten Fahrerinnen leiden zu sehen, doch wir sind angefixt, wollen mehr darüber wissen, wie es dem Team gelingt, Fahrerinnen mit unterschiedlicher Stärke, unterschiedlichem Können und Stehvermögen zu bündeln.

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„Natürlich hätten wir gerne eine Gesamtklassement-Fahrerin; wir haben Lisa Brennauer, die drei Etappenrennen gewonnen hat, und Trixi hat dieses Jahr in Kalifornien und Quatar gesiegt. Aber manchmal muss man eben mit den Karten spielen, die man hat“, erklärt Ronny pragmatisch.
Auch wenn die Fahrerinnen in diesem Rennen hier nicht um das Gesamtklassement kämpfen, hat das Team in der Welt des Profi-Frauenradsports definitiv für Furore gesorgt. Es hat dem Sport eine neue Ausstrahlung verliehen, Türen zu den Medien geöffnet und durch seine ausgeprägte Social-Media-Präsenz direkte Einblicke in den Teamalltag gewährt. Das war eine entscheidende Komponente beim Bilden des Teams und die Folgen zeigten sich am Start der Etappe, wo das Publikum zu den CANYON//SRAM-Fahrerinnen strömte und um Autogramme bat – auch ohne ein Maglia Rosa 2016.

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Schon vor dem Rennen hatten wir das Gefühl, die inneren Abläufe im CANYON//SRAM-Team zu kennen, hauptsächlich dank Social Media. Doch das Rennen vom Beifahrersitz aus zu beobachten, ist eine ganz besondere Erfahrung. „Ein offenes Team zu sein, Social Media, ein gutes Image – das ist alles wichtig, aber den Wettkampf dürfen wir darüber nicht vergessen“, konstatiert Ronny, als wir die Abfahrt erreichen. „Die Emotionen, die man mit einem Sieg erzeugen kann, sind viel besser als alles, was mit Social Media geht.“ Er unterbricht seinen Satz und beobachtet mit Bewunderung, wie eine herausragende Abfahrerin auf majestätische Weise das Auto überholt. „Sie ist offensichtlich noch nie gestürzt“, sagt er mit einem ironischen Grinsen. Die Führende seines eigenen Teams wird auch überholt, was wenig überraschend ist angesichts ihrer offensichtlichen Zurückhaltung auf der steilen, engen und technisch anspruchsvollen Abfahrt. Ronny sieht die Herausforderung dieses Augenblicks in einem positiven Licht: „Ich habe meist nicht die Möglichkeit, die Fahrerinnen in einem Rennen bergab fahren zu sehen. Normalerweise sind wir im Konvoi, und wie oft hat man schon Bergetappen wie diese hier? Das ist mega interessant für mich und definitiv etwas, womit wir arbeiten können.“

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Im Ziel, neben dem Teamwagen, dessen Bremsen leise ticken, während sie nach der Dauerbenutzung am Berg langsam abkühlen, werden wir Zeuge eines zärtlichen Moments innerhalb des Teams. Abseits der lärmenden Menge und der augenscheinlich verirrten Fahrer auf der Suche nach ihren Team-Vans sehen wir eine emotionale Alena vor Ronny in Tränen ausbrechen. Die Spannung der technischen Abfahrt bricht aus ihr heraus und sie fragt sich, ob ihr 14. Platz ein sehr viel höherer hätte werden können.

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Doch so etwas ist Teil der ganz normalen Routine im Radrennsport und die gut geölten Funktionsmechanismen des Teams werden sie zurück in seine Mitte holen. Nach unserem Tag mit dem CANYON//SRAM-Team ist uns klar, dass es hier nicht um Komfort geht, nicht um Teambusse oder -Trucks, die eine Million Euro kosten. Der Trick, um das Maximum aus dem Körper herauszuholen, liegt darin, erst einmal mental an den richtigen Punkt zu kommen. Und wir sind uns sicher, dass sich diese Fahrerinnen unter Ronnys väterlicher Führung wirklich nah an genau diesen Punkt herankämpfen.

Weitere Informationen findet ihr auf wmncycling.com


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Text & Fotos: Emmie Collinge