Das Pentagon und Südtiroler Rahmenbau – ein Besuch bei Camin Bikes

Dass mich meine Reise nach Südtirol in eine altgriechische Enklave führen würde, damit hatte ich nicht gerechnet. Ebenso wenig damit, dass der Firmenbesuch einer Bikeschmiede in einem Exkurs über Bio-Weine und Philosophie enden würde. Wer Kultur und Individualität mag, wird diese Story lieben!

Bozen, die Landeshauptstand Südtirols, ist die Heimat von Claudio Camin. Der ehemalige Straßenprofi und mehrfache italienische Meister führt hier seine eigene Bikeschmiede, die Carbon-Maßrahmen „fatto in Italia“ herstellt. Parallel dazu betreibt der Tour de France-Teilnehmer noch einen Bikeshop, in dem er ein breites Angebot von Rennrädern über Mountainbikes bis hin zu E-Bikes anbietet. Konkurrenz zu seiner eigenen Marke? Er sieht es eher als Komplementär-Angebot. Claudio hatte uns schon im Frühjahr zu sich nach Bozen eingeladen, als er an unserem Bike-Vergleichstest im Sarntal teilnahm – und dieser Einladung war ich nun gefolgt!

Zero – Baukunst und Pragmatismus

Die Maßrahmen der Custom-Modellreihe Zero werden im Tube-to-Tube-Verfahren hergestellt. Vor Ort konnten wir leider keinen Einblick in die Fertigung erlangen, denn in Bozen finden ausschließlich Design, Vermessung und Montage statt. Die Maßrahmen werden in Trient im Norden Italiens in einer kleinen Manufaktur hergestellt.
Auch den Lack kann der Kunde individuell wählen – so dauert die Produktion zwischen 4 bis 6 Wochen. Am Ende kann man sich jedoch über ein vollkommen individuelles Produkt freuen.

Die Rohre werden dabei auf das Fahrergewicht und die Größe angepasst.

Nach einer kurzen Führung durch die Lagerräume – wo übrigens auch Ski und Motocross-Equipment lagern (ja, rund um Bozen kann man einiges machen) – wurde es dann ernst:

„Wer schlägt den Löwen? Wer schlägt den Riesen? Wer überwindet jenen und diesen? Das tut jener, der sich selbst bezwingt und seine Sinne in Gewahrsam bringt, wie ein Sturmschiff in des Hafens Hut.“ – Walther von der Vogelweide

Na ja, fast. Denn Ex-Profi Claudio muss sich nichts mehr beweisen. Meine Befürchtung, dass die Tour auf den Ritten zur Tort(o)ur werden würde, verflog schnell, als wir das moderne Gebäude in der Enzo-Ferrari-Straße im südlichen Teil Bozens verließen.

Ich hatte erst spät am Vorabend in das Parkhotel Laurin eingecheckt und bisher noch keine Gelegenheit gehabt, Bozen zu erkunden. Dem Vorschlag Claudios, auf dem Waltherplatz – benannt nach einem der bedeutendsten deutschen Lyriker des Mittelalters, Walther von der Vogelweide – einen Espresso Macchiato zu trinken, kam ich gerne nach. Der Waltherplatz bildet das kulturelle Zentrum Bozens und wird von Einheimischen genauso wie von Touristen als Ausgangspunkt zum Flanieren und (gut) Essengehen genutzt. Wir nutzten ihn als Startpunkt unserer Tour auf den Ritten.

„Weise reden, weil sie etwas zu sagen haben. Toren sagen etwas, weil sie reden müssen.“ – Platon

Claudio selbst ist kein Mann der tausend Worte. Der gebürtige Bozener ist Pragmatiker und Analyst und begnügt sich damit, nur die essenziellen Dinge ohne Umschweif zu erzählen. Marketinggebabbel überlässt er anderen, oder, besser gesagt: Das gibt es bei ihm nicht. Er lässt lieber das Ergebnis seiner Arbeit für sich sprechen. Und die ist ehrlich, bodenständig und ohne pompöses Heckmeck.

Dafür lebt er seine Leidenschaft umso mehr, steigt fast täglich aufs Rad und führt ein Leben ohne Hast: typisch Südtirol eben. Die nördlichste und autonome Provinz Italiens vereint italienisches Dolce Vita und südländischen Flair mit der Strukturiertheit und Arbeitsamkeit der Deutschen oder Österreicher.

„Glücklich sind die Menschen, wenn sie haben, was gut für sie ist.“ – Platon

Der visionäre Professor und ehemalige Besitzer des Weinguts, Rainer Zierock hatte alles, was gut für ihn war und war dennoch unglücklich. Das Genie unter den Önologen wurde von seinen Mitmenschen einfach nicht verstanden – er war und wäre heute noch immer seiner Zeit voraus. Doch wie so häufig erkennt man die Erbschaft des Künstlers erst post mortum.
Nach dem Tod des gebürtigen Stuttgarters im Jahre 2009 ersteigerte die Familie von Claudio Camins Frau das Weingut Ansitz Dolomythos von Zierock und restaurierte das am Fuße des Rittener Sonnenplateaus gelegene historische Gebäude.

„Es ist nicht genug zu wissen, man muss auch anwenden. Es ist nicht genug zu wollen, man muss auch tun.“ – Johann Wolfgang von Goethe

Zierocks Schätze begutachteten wir im Verlaufe des Nachmittags, als wir in den kühlen Weinkeller hinabstiegen, in dem Tausende von abgefüllten, aber unbeschrifteten Flaschen lagern. Genauso experimentell und genial wie Zierock die Weine nach der Biodynamik-Lehre von Rudolf Steiner erschaffen hat – allen Zweiflern und Kritikern zum Trotz – so hatte der Goethe verehrende Stuttgarter Professor auch den Ansitz Dolomythos genau nach seinen Vorstellungen gestaltet.

„Panta rhei“ – die Lebensweisheit, die auf den griechischen Philosophen Heraklit zurückzuführen ist, ist im Ansitz Dolomythos allgegenwärtig. „Alles fließt“ lautet die wörtliche Übersetzung und steht für die Vergänglichkeit des Moments, der so nie wieder kommen wird. Alles ist immer in Bewegung, frei nach dem Motto „man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen“. Damit ist das ganze Anwesen ein Appell, jeden Moment des Lebens bewusst zu erleben und zu genießen. Denn dieser Moment kommt nie wieder.

Und genau das war unser Motto an diesem Tag, als die Familie Camin uns nach der Radtour im ersten Gang feinste Südtiroler Schlutzkrapfen auftischte und wir einen Weißwein dazu genossen. Allerdings keinen typisch leichten Sommerwein, vielmehr handelte es sich um einen 9 Jahre (!) alten Bio-Wein aus Pinot Grigio, der von der Würze und Stärke eher wie ein Rotwein zu genießen war. Ebenfalls für Genießer waren die Knödel auf Weißkraut – aber Vorsicht, niemals wagen, ein Messer zu benutzen! Nach Südtiroler Tradition wäre dies ein Affront gegenüber dem Koch.

Pentagon und Pentagramm – die bestimmende Symbolik des Hauses findet sich beim eigenproduzierten Wein genauso wieder wie in der Architektur und Einrichtung der Räumlichkeiten des Anwesens und steht dabei für Fruchtbarkeit und die Verbindung des intellektuellen Geistes mit den vier Elementen. Das vermutlich beeindruckendste Werk ist die gigantische, dreistöckige Terrasse in Form eines Pentagons für Götter, Geistliche und das Fußvolk. Wem das zu viel Hokuspokus und Philosophie ist, der kann den Blick über die Weite des Eisacktals schweifen lassen. Doch auch hier ist man vor Mythen nicht gefeit: In der Ferne sieht man den Rosengarten, ein Bergmassiv, welches der alpenländischen Sage nach durch den verliebten Zwergenkönig Laurin entstand und im Lichte der Dämmerung in tiefem Rot erstrahlt.

Krönender Abschluss dieser kulturellen wie önologischen Exkursion bildete eine kleine Sherry-Probe. Und egal ob man all den Sagen, Mythen und Symbolen Glauben schenken mag – eine gewisse Faszination üben sie allemal aus und sind zudem eine schöne Ablenkung vom Alltag. In diesem Sinne ein Hoch auf „Panta Rhei“! Doch ich weiß schon jetzt: Ich werde wieder kommen. Und auch dann einige unvergessliche Momente lang im Augenblick ausharren.

Weitere Informationen:

Mehr Informationen findet ihr auf der Camin Website.

Der Ansitz Dolomythos bietet Weinproben für Gruppen.

Als Unterkunft ist das Parkhotel Laurin in Bozen zu empfehlen – mit großem, entspannendem Garten, direkt hinter dem Waltherplatz. Leckere Eisdielen und Restaurants sind in Fußnähe. Eine gute Bar befindet sich direkt im Hotelgarten.

Hier findet ihr Tourenvorschläge rund um Bozen.

Hat dir dieser Artikel gefallen? Dann würde es uns sehr freuen, wenn auch du uns als Supporter mit einem monatlichen Beitrag unterstützt. Als GRAN FONDO-Supporter sicherst du dem hochwertigen Bike-Journalismus eine nachhaltige Zukunft und sorgst dafür, das die New-Road-Welt auch weiter ein kostenloses und unabhängiges Leitmedium hat. Jetzt Supporter werden!

Text: Robin Schmitt Fotos: Robin Schmitt, Klaus Kneist