Perfekt asphaltierte, autofreie Straßen, die sich kunstvoll eine malerische Alpenlandschaft hinaufschlängeln, frühlingswarme Temperaturen und ein wolkenlos strahlender Himmel – New York City ist von dieser Traumvorstellung weiter entfernt als Iron Maiden vom Paradies. Und trotzdem der ideale Ort für den Campagnolo Gran Fondo New York.

Der amerikanische Traum ist im Hinblick auf die Straßenverhältnisse definitiv geplatzt. Statt „vom Tellerwäscher zum Millionär“ heißt unsere Gleichung „von den perfekten Straßen Stuttgarts (Geburtsort des Porsche 911 und des Mercedes 300SL) zu den schlaglochübersäten Straßen New Yorks“. Und ausgerechnet hier klingelt um 3.30 Uhr mein Wecker. Warum genau tue ich mir den GFNY noch mal an? Vor Sonnenaufgang und bei schneidendem Wind in Manhattan vom Times Square 120 Blocks gen Uptown fahren – als Plan für einen Sonntagmorgen nicht unbedingt ausgereift. Das sollte meine Fahrt zum Start des 100-Meilen-Gran-Fondos werden. Als ich um 4.30 Uhr in einem Laden, der entfernt an eine Bäckerei erinnert, mein Croissant und einen Espresso abhole, treffe ich auf die Überreste von Samstagnacht: sturzbetrunkene Jungs und lallende Mädels in kurzen Röcken bei klirrender Kälte, die auf ein Taxi oder Uber warten. Wer ist bescheuerter? Sie oder ich? Ich bin noch viel zu müde, um das zu entscheiden.

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Laut, stinkend, chaotisch und unübersichtlich. Ganz Manhattan scheint geradezu absichtlich fahrradfeindlich zu sein: Fallwinde inmitten der Häuserschluchten, Glasscherben, Straßenarbeiten, zugeparkte Radwege, ungestüme Autofahrer. Die Stadt, die niemals schläft, ist weit entfernt von jeder Alpenidylle. Dennoch floriert das Radfahren. Das Madison Race wurde im Madison Square Garden erfunden, wo vor 100 Jahren Rennradfahren populärer als Baseball war. Brooklyn ist Geburtsstätte der weltweit angesagten Red Hook Crit-Serie, dazwischen gibt es kleine Oasen wie den Central Park, wo jeden Samstag in der Frühe Rennen ausgetragen werden. An diesem Wochenende dominierte der Campagnolo Gran Fondo New York die gesamte Radszene in der Stadt – 5.000 Teilnehmer aus 93 Nationen waren gekommen, um an diesem einzigartigen Rennen teilzunehmen, das mit einem 100- und einem 50-Meilen-Kurs zwei Optionen bot.

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Über den Hudson River Park mache ich mich auf zur George Washington Bridge und sammle auf dem Weg dorthin weitere Teilnehmer ein. Allmählich merke ich: Ich bin nicht der einzige Verrückte! In geschlossener Gruppe fahren wir zum Start. Dann passiert es: Der Moment, in dem die Sonne aufgeht, ist gleichzeitig der Moment der Erleichterung – die Strahlen spenden Wärme, spiegeln sich im Wasser des Hudson und lassen die müden Gesichter aufwachen: Bro, wir sind in fucking New York City! Der innere Schweinehund ist jetzt nirgends mehr zu finden.

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Pressure on me?

Ich weiß selbst nicht, wie ich in der ersten Startreihe gelandet bin. Fakt ist: Ich bin hier und habe 100 Meilen vor mir. Das sind 160 km! 100 Meilen bin ich zugegebenermaßen noch nie in meinem Leben gefahren. Aber wie heißt es so schön? Man wächst an seinen Aufgaben. Das Motto also: durchkommen. Ich habe mir keine Finisher-Zeit vor- und kein Garmin mitgenommen. Unbeschwert und ohne Druck will ich meinen eigenen Rhythmus fahren, die Landschaft genießen und vielleicht sogar neue Freundschaften schließen. Wofür bin ich sonst nach New York gekommen? Nur für einen Wettkampf reist man schließlich nicht einmal um den halben Globus.

Und genau das ist die Faszination dieses Rennens, das mehr ist als ein Rennen. Die Gründer Lidia und Uli Fluhme haben aus dem Gran Fondo New York die GFNY World Series gemacht, mit internationalem Flair und den höchsten Qualitätsstandards – nicht zu Unrecht wird die GFNY-Serie mit Rennen in Europa, Amerika und Asien als populärste und beste Gran-Fondo-Serie der Welt gehandelt.

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Der GFNY New York ist der Ausgangspunkt, neue Leute aus aller Welt zu treffen. Eine Mischung aus Urlaub, Kultur und Freiheit auf zwei Rädern. Wer kann schon von sich behaupten, 160 km mit dem Rennrad rund um eine Weltmetropole gefahren zu sein? Wer nur für das Rennen kommt, ist selbst schuld. Die 100-Meilen-Strecke ist mit ihren 2.450 Höhenmetern nicht weniger herausfordernd als ein Rennen in den Alpen: Ein konstantes Auf und Ab entlang des Hudson River bis zu Bear Mountain, dem mit 300 hm größten Anstieg, sorgt für ordentlich Laktat in den Beinen. Zu Ehren des verstorbenen Andrea Pinarello trägt ein 3 km langer Anstieg dessen Namen.

„Und diesen Spirit gibt der GFNY an seine Teilnehmer aus aller Welt weiter“

GFNY ist eine Familie, in der man aufeinander achtgibt und Begeisterung miteinander teilt, unabhängig vom Fahrerlevel. In amerikanischer You-can-do-it-Mentalität wird nicht nur während des Rennens motiviert, sondern das gesamte Jahr über. Il gruppo sportivo – bestehend aus GFNY Ambassadors – organisiert ganzjährig gemeinsame Training Rides und führt so Fahrer an den Gran Fondo New York heran, unterstützt sie und gibt hilfreiche Tipps. Genauso herzlich und fürsorglich wie eine italienische famiglia, nur internationaler. Und diesen Spirit gibt der GFNY an seine Teilnehmer aus aller Welt weiter: Lidia und Uli animieren dazu, dass jeder seine Familie mitbringt, und umsorgen die Teilnehmer mit Tipps vom richtigen Bikeshop (Strictly Bicycles!) über fahrradfreundliche Hotels bis hin zu Sehenswürdigkeiten und sorgen dafür, dass man den Familiensegen nicht mit zu viel Sport und zu wenig Quality-Time aus dem Gleichgewicht bringt.

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Ich bin zwar ohne Familie, aber dafür mit Freunden nach New York gereist. Gut essen, ein wenig shoppen, einen Morning Ride (um 5.30 Uhr!) im Central Park, eine Ausfahrt mit dem Rapha Cycle Club NYC und Sightseeing auf dem Bike mit Aussichten, die kaum ein Tourist zu sehen bekommt.

Alte Schule, gleicher Lehrer

Die Aussicht von der George Washington Bridge gehörte genauso dazu. In der Röte der Morgensonne sah Manhattan so friedlich aus – ganz anders als mein Gemütszustand in Anbetracht des bevorstehenden Gran Fondos! Trotzdem lasse ich es erst einmal locker angehen. Aufgrund von Aufregung und Übermotivation bereits am Anfang die Körner verschießen – diesen Fehler will ich nicht begehen. Leichte Zweifel an meiner Strategie machen sich breit, als ich schon auf den ersten Meilen aus der Stadt hinaus von Dutzenden Fahrern überholt wurde. Mein Buddy Joshua von Campagnolo hat sich bereits in der Frontgruppe etabliert und da dranzubleiben wäre einfach nur illusorisch.
Trotzdem finde ich schnell eine Gruppe, die mein Tempo fährt. Da kaum Handzeichen durchgegeben werden, ist das Fahren in der Gruppe ein wenig riskant: Die – trotz größtem Einsatz der Orga – schlechten Straßenverhältnisse mit Schlaglöchern und großen Kieseln gebieten auf den ersten Meilen entlang der River Road aufmerksames Fahren. Später sollten die Straßen besser werden.

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Beim zweiten Verpflegungs-Stopp lasse ich meine Gruppe ziehen und gönne mir einen kurzen Snack. Wieder auf dem Bike höre ich ein „We need to work better together, let’s close the gap to the next group“ mit hartem deutschen Akzent. Wie klein die Welt sein kann: Wenig später stellt sich heraus, dass dieser Fahrer nicht nur aus Deutschland, sondern sogar aus der gleichen Stadt kommt und wenige Jahre vor mir auf dieselbe Schule gegangen ist. Also fahre ich durch New York State und unterhalte mich derweil über die Lehrer unserer Schulzeit. Wenn die wüssten …

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Peanut-Butter Jelly Time!

Nach Bear Mountain geht es abwärts. Der frische Fahrtwind kühlt meine heißgelaufenen Beine – ideale Bedingungen! Doch leider geht es auch mit meiner Leistung abwärts. Essen, irgendwann denke ich nur noch an Essen. Von Energieriegeln habe ich genug. Vermutlich ist es nicht mal Unterzuckerung, sondern nur das subjektive Gefühl, etwas Gutes in den Magen bekommen zu müssen. Im Gegensatz zu meinen Mitstreitern entscheide ich deshalb, an der nächsten Verpflegungsstation anzuhalten und einen kleinen Snack einzulegen. Nicht nur für meinen Körper, auch für meine Seele.

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Der Bagel mit Erdnussbutter und Marmelade ist es schließlich, der mich wieder auf die Höhe bringt. Und dann ist er auf einmal da: der Wille, bis ins Ziel alles zu geben. Ehrgeiz verdrängt meinen ursprünglichen Plan, einfach nur durchzukommen, der kompetitive Charakter hat auf einmal seinen Reiz, obwohl ich mir vor drei Jahren vorgenommen habe, mir auf Rennen nichts mehr zu beweisen. Damals war ich semiprofessioneller Mountainbiker in einem der besten deutschen Downhill- und Enduro-Teams, fuhr Downhill World Cups und Endurorennen und konnte die Rennen nie dank meiner Statur, dafür aber mit der richtigen Taktik und eisernem Willen durchziehen. Genau dieser Wille setzt sich wieder durch, um mich herum verschwimmt die Umgebung und ich tauche ein in meine eigene Welt. Spüre den Atem, höre die entfernten „You’re doing great“-Zurufe vereinzelter Zuschauer am Straßenrand und trete in die Pedale. Jetzt gibt es nur noch mein Bike , mich und die letzten Meilen des GFNY. Berge sind meine Stärke, also spare ich die letzten Reserven für Dyckman Hill auf, ein letzter Anstieg mit maximal 10 % Steigung. Und es funktioniert – wie bescheuert fliege ich die Strecke hinauf, Cheerleader feuern mich an (wie gern würde ich anhalten!) und sorgen für den letzten Motivationsschub auf den verbleibenden drei Meilen bis ins Ziel.

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High-Five mit Rennorganisator Uli, Siegerfoto mit Medaille und ab aufs Festivalgelände, wo es feinste italienische Pasta gibt. La dolce vita meets Big Apple. Platz 271 von 3.500 Finishern, ich bin mindestens genauso überrascht wie zufrieden. Doch daran werde ich mich schon in 6 Monaten nicht mehr erinnern. Dafür aber an den unvergesslichen Moment beim Sonnenaufgang auf der George Washington Bridge und daran, dass die harten Straßen New Yorks die perfekte Metapher fürs Rennradfahren sind: hart, ehrlich und wahnsinnig gut.

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Vielen Dank an GFNY, Campagnolo und De Rosa.


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Text: Robin Schmitt, Alex Ostroy Fotos: Sportograf, Noah Haxel, Robin Schmitt