Ausgabe #004 Special

Essay – Angetrieben von Nostalgie

In der Regel verbringe ich den kompletten Winter damit, Pläne für den nächsten Mai zu schmieden. Yep. Ich kann euch versichern, die kalte Jahreszeit im hohen Norden ist das Kryptonit der Rennradfahrer. Drei Monate lang werden wir tiefgefroren, drei Monate lang tauen wir erst mal langsam wieder auf.

[emaillocker id=”8237″]

Unterdessen glauben im Süden Europas die Rennradfahrer mit ihren Arm- und Beinlingen, dass die Kälte unerträglich sei. Bullshit. Kalt ist es, wenn man nicht fahren kann, weil auf den Straßen ein halber Meter Schnee liegt. Richtig kalt ist es, wenn man das Training für die Saisonvorbereitung auf dem Rollentrainer, im Fitnessstudio oder auf Langlaufskiern machen muss. Stellt es euch mal vor: Von Dezember bis Mai pedaliert man ausschließlich drinnen vor sich hin, in einem schmuddeligen Kellerraum zwischen der Waschmaschine und dem alten Grill, den schon ewig keiner mehr benutzt hat. Entweder da oder im Fitnessstudio, wo einem der Schweiß in Strömen herabrinnt, während man auf dem Flatscreen die BBC-Nachrichten oder irgendeine beliebige Tanzshow sieht. „So you think you can dance?“ oder eben vielmehr „So you think you can pedal indoors for 6 months“ … Eine Millionen Pedaltritte verdichten sich zum Aroma der Nostalgie. Aber ist es so verkehrt, nostalgisch zu werden? Nein, nicht für mich zumindest. Nostalgie liefert den Treibstoff, um die ruhmreichen Tage der Zukunft überhaupt erst zu erreichen. Und diese Tage werden kommen, sie kommen immer – das kann ich euch versprechen.

Und Bowie singt:
“You love bands when they’re playing hard You want more and you want it fast …”

Diejenigen unter euch, die das jetzt lesen und in einem dieser Länder leben, die hochentwickelt sind, mit einer stabilen Wirtschaft und dem ganzen Scheiß, werden wissen, wovon ich rede. Ich rede vom grauen Himmel, von den nassen Straßen und von den langen Gesichtern, die die Leute machen, während sie in der Schlange stehen und auf den Bus warten. Der Süden Europas ist eine chaotische Landmasse voller Korruption und Arbeitslosigkeit, aber diese Bastarde haben eine Sonne, die so hell brennt, dass man davon noch durch die Thermo-Jacke hindurch braun wird. Vielleicht machen uns aber auch gerade die harten Winter im Norden zu Einser-Schülern und verleihen uns dadurch letztendlich einen Vorteil, auch wenn wir dabei zu einer Art Außenseiter im Radsport werden. Lebst du nördlich des Pariser Breitengrads? Dann willkommen im Club. Wir sind wie Gefangene mit langen Haftstrafen: introvertiert, kaum Freunde, aber irre muskulös von dem ganzen Training. Der Rollentrainer ist unser Gefängnishof. „Rebel, Rebel“ dröhnt aus unseren verschwitzten, stinkenden Kopfhörern. Bowie heißt jede Menge Wattleistung und manche Typen sammeln sie mit ihren teuren Garmins wie die Kids, die diese verdammten Pokémons fangen.

[/emaillocker]

Und wir treten, „harder and faster“. Denn monatelang leben wir in unserer niemals endenden Playlist, die mehr mit unseren Gefühlen anstellt als wir selbst. Und das ist gut so. Lass dir von niemandem erzählen, dass Gefühle überbewertet sind. Verdammt, Gefühle sind alles, was wir haben!

Tritt in die Pedale. Steh auf. Hör nicht auf, bevor deine Beine sagen, dass du musst. Fahr einen Hors-Catégorie-Anstieg. Fahr runter, mit 100 km/h. Ohne Scheibenbremsen. Fahr das gottverdammte Ding wieder hoch. Schneller als vorher. Komm oben an. Übergib dich. Trink einen Café und iss ein Croissant. Rede mit den Leuten an der Bar. Mach ein Selfie mit ihnen. Lach mit ihnen darüber. Lad es auf Instagram hoch, wir wollen es sehen. Fahr weiter. Auch wenn es regnet. Stürze. Blute. Wisch den Dreck ab und fahr weiter. Streite dich mit einem Autofahrer. Lass dir das Wasser ausgehen. Leide. Sitze unter einem Baum. Fahr in den Abend hinein. Mach deine Kette kaputt. Reparier sie. Mach dein 100-Euro-Lenkerband dreckig. Mach die Lichter an. Fahr nachts. Komm nach Hause. Geh duschen. Iss eine Pizza zum Abendessen. Trink ein Bier. Fall aufs Sofa. Kuschel mit dem Hund. Küss deine Frau. Geh schlafen. Steh auf. Fahr wieder los.

Text: Alberto Álvarez Illustrationen: Julian Lemme


Hat dir dieser Artikel gefallen? Dann würde es uns sehr freuen, wenn auch du uns als Supporter mit einem monatlichen Beitrag unterstützt. Als GRAN FONDO-Supporter sicherst du dem hochwertigen Bike-Journalismus eine nachhaltige Zukunft und sorgst dafür, das die New-Road-Welt auch weiter ein kostenloses und unabhängiges Leitmedium hat. Jetzt Supporter werden!